van Guliks merkwürdige Fälle des Richters Di: Rezension einer Krimireihe

Der Aufbau der Detektivromane um Richter Di1 folgt einem typischen Tatort-Film: Zunächst wird ein Mord unvollständig geschildert, sodass man als Leser auch im Verlaufe der Handlung den Ermittlern ein wenig voraus ist, ohne jedoch sagen zu können, wer nun der Mörder sei. Wie beim Sonntagabend-Krimi wird die Ermittlungsarbeit immer wieder von Actionszenen unterbrochen, in denen die Beamten, aber zuweilen auch der Richter persönlich, ihre Fecht- und Boxkünste unter Beweis stellen müssen. Im Unterschied zum modernen Fernsehkrimi gibt es neben dem Mord noch weitere Fälle; es sind drei (nur teilweise ineinander verstrickte) Fälle, mit denen sich Richter Di herumschlagen muss. Der Autor folgt darin der chinesischen Vorlage, den ‹Kriminalfällen zur Zeit von Kaiserin Wu Zetian› [1], die Gulik 1949 in englische Übersetzung herausgab [2] und die auf deutsch unter dem Titel ‹Merkwürdige Kriminalfälle des Richters Di› [3] erhältlich ist. Es sollte für van Gulik der Auftakt werden zu einer ganzen Reihe von Kriminalromanen.

Diese chinesische Vorlage, die im 18. Jahrhundert anonym veröffentlicht worden war, gehört zum Genre der Gong’an2-Literatur. Bei dieser Art von Kriminalroman spielt ein Mandarin die zentrale Rolle, nicht nur, weil er wegen mangelnder Gewaltenteilung ausführender und richtender Arm des Gesetzes ist, sondern auch weil er in der Regel der einzige ist, der die Komplexität der vorliegenden Verbrechen mit Verstand und guter Nase zu durchschauen imstande ist. Auf dieser Grundlage zieht Gulik eine Krimi-Reihe auf wie eine moderne Fernsehserie: In den ersten Folgen lernen wir Richter Di kennen und die Hauptpersonen werden vorgestellt. Im weiteren Verlauf ändert sich diese Konstellation nur noch geringfügig. Insofern ist die Reihenfolge der einzelnen Krimis irrelevant und nur der Vollständigkeit halber unten angehängt. Man kann irgendeinen der vielen Richter-Di-Romane Guliks zur Hand nehmen und findet sich gleich zurecht.

Die Titel der Bücher tragen zum Teil den Zusatz “alten chinesischen Originalquellen entnommen”. Gemeint sind damit die Gerichtsfälle, die Gulik als Ausgangspunkt seiner Recherche wählt: mal nimmt er eine detektivische Meisterleistung aus dem ‹Lung-t’u-kung-an›3 aus der Zeit der Ming-Dynastie, mal entstammt ein Gift dem ‹Nan-chao-yeh-shih›4 oder er entnimmt ein Testament dem ‹T’ang-yin-pi-shih›5 bzw. seiner Übersetzung dieses Werkes [4]. Gulik ist in keiner Weise der ausländische Teufel, der Chinesen abscheuliche Verbrechen begehen lässt, sondern sichtet für uns das Jahrtausende umfassende Archiv der chinesischen Rechtsprechung und serviert daraus die besten Happen. Er selbst formuliert sein Anliegen gleich zu Beginn des Vorwortes seiner Übersetzung: “Da Chinesen so oft in Kriminalromanen dargestellt werden — und häufig ganz falsch — erscheint es nur angemessen, sie selbst einmal in dieser Sache zu Wort kommen zu lassen” [2, S. I]. Vielleicht bekommt man als Leser auch gerade wegen dieser Authentizität einen so lebhaften Einblick in die Gesellschaft des alten China. Gulik lesen — das heißt, in die Welt des Richters Di abtauchen. Den Suchtfaktor beschreibt Till Radevage: “Hast du, Leser, erst einmal am Köder der ersten Falles geschnuppert, dann hängst du auch schon rettungslos an den Haken, denn nach dem ersten Fall kommt ein zweiter, danach noch ein dritter, und du schluckst und schluckst (mit den lesenden Augen), bis du alle drei ineinander verschachtelten Fälle verschlungen hast. Daraufhin eilst du fliegenden Fußes in die Buchhandlung, dir den nächsten Richter-Di-Roman zu besorgen” (zitty, Berlin).

Robert van Gulik (*1910 †1967) studierte indisches Recht und wurde in den Literaturwissenschaften promoviert. Er arbeitete als niederländischer Diplomat überall auf der Welt, zuletzt als Botschafter in Japan. In den Wirren des zweiten Weltkriegs heiratete er seine Chinesisch-Lehrerin in Chongqing. Nebenbei entstand der erste Band [2]: “Die Übersetzung entstand vor allem in den Jahren des Pazifikkrieges 41-45, während derer mich militärische Verpflichtungen beständig an tiefgründiger sinologischer Forschungsarbeit hinderten.”6 An den nachfolgenden 14 Richter-Di-Romanen mit insgesamt über 50 zu lösenden Fällen arbeitete er quasi nebenher. Ebenso fertigte van Gulik die zahlreichen Abbildungen, die Holzschnitte, selbst an — in jedem Band fast ein Dutzend. So ist beispielsweise das Deckblatt des Bandes “Poeten und Mörder”, siehe oben, seine eigene Arbeit. Auch bei den Illustrationen orientierte er sich an der chinesischen Vorlage [1], die u.a. den folgenden Holzschnitt enthielt, um dem Leser eine Vorstellung von Richter Di zu vermitteln, insbesondere von Amtskappe und Bart.

Entstanden sind die Richter-Di-Bücher in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts und so erscheint manche Perspektive veraltet oder unangemessen. Ausländer sind ungebildet, roh und sprechen nur schlecht Chinesisch. Frauen werden als schwach und abhängig dargestellt, oftmals sind sie Opfer der Gewalt, werden verschleppt oder getötet. Zwangsprostitution und sexualisierte Gewalt sind in den Büchern oft mit organisierter Kriminalität verbunden und landen somit entsprechend häufig auf Richter Dis Schreibtisch. Dies gibt Gulik immer wieder Anlass, sein Expertenwissen zu Sex in China vorzuführen, denn neben den Krimis veröffentlichte Gulik auch eine Abhandlung über das Sexualleben im alten China [5]. Mit vielen Details, geradezu mit Liebe, lässt er die Konkubine des Mandarins die Augen aufschlagen, die Ehefrau eines reichen Geschäftsmannes eine Affäre begehen oder auch die Prostituierten in den Bordellen Partys ausrichten. Gulik verurteilt die Menschen nicht, genauso wenig wie Richter Di, solange sie sich im Rahmen des Gesetzes bewegen. Wenn aber nicht, zögern weder Autor noch Richter zu härtesten Strafen zu greifen. Die Bestrafung der Schuldigen ist zentraler Bestandteil der (chinesischen) Rechtsprechung, und die Schilderung derselben Teil des historischen Kriminalromans in China. Die Detailtreue dieser Schilderungen ist aus heutiger Sicht abstoßend und ein wichtiges Kriterium für Gulik gewesen bei der Wahl für seine Übersetzung: “Chinesen erwarten doch einen tatsachengetreuen Bericht von der Vollstreckung des Urteils mit allen grausigen Details. […] Bei dem Vorhaben für die westlichen Krimi-Liebhaber einen chinesischen Detektivroman vollständig zu übersetzen, war mein Hauptproblem gewesen, einen zu finden […]” [2, S. IV]. Mit den ‹Kriminalfällen› des Richters Di ist van Gulik jedoch fündig geworden. Er sollte ihn bis zu seinem Tod nicht mehr loslassen.

Quellen

[1] ‹武則天四大奇案›, Wǔzétiān sì dà qí àn, dt. ‹Kriminalfälle zur Zeit von Kaiserin Wu Zetian›,wörtlich “Wǔ Zétiān7: Vier große, ungewöhnliche Fälle”, unbekannter Autor (18. Jhdt.).

[2] ‹Celebrated Cases of Judge Dee›. Eine Übersetzung und Überarbeitung des ersten Teils von ‹武則天四大奇案› [1], angefertigt von Robert van Gulik (1949).

[3] ‹Merkwürdige Kriminalfälle des Richters Di. Ein altchinesischer Detektivroman›. Aus der englischen Ausgabe [2] übersetzt von Gretel und Kurt Kuhn (1988), Taschenbuch, Diogenes Verlag, ISBN 978-3-257-23014-7

[4] T’ang-yin-pi-shih, “Parallel Cases from under the Pear-Tree: A 13th Century Manual of Jurisprudence and Detection”, aus dem Chinesischen übersetzt von Robert van Gulik (1956).

[5] Robert van Gulik, “Sexual Life in Ancient China: A Preliminary Survey of Chinese Sex and Society from ca. 1500 B.C. till 1644 A.D.” (1961).

Richter-Di-Reihe von van Gulik

14 Kriminalromane, 1 Übersetzung und 10 Fälle in Erzählform, in chronologischer Reihenfolge, also nicht in der Reihenfolge ihres Erscheinens:

0 Merkwürdige Kriminalfälle des Richters Di [3]
1 Geisterspuk in Peng-lai
Richter Di bei der Arbeit (8 kurze Fälle)
2 Der Wandschirm aus rotem Lack
3 Der See von Han-yuan
4 Nächtlicher Spuk im Mönchskloster
5 Wunder in Pu-yang?
6 Halskette und Kalebasse
7 Tod im Roten Pavillon
8 Die Perle des Kaisers
9 Poeten und Mörder
10 Mord im Labyrinth
11 Das Phantom im Tempel
12 Nagelprobe in Pei-tscho
Der Affe und der Tiger (zwei Erzählungen)
13 Mord nach Muster
14 Mord in Kanton

  1. 狄仁傑, Dí Rénjié, ist der volle Name des Richters, in Guliks Transkription Di Jen-dsiä. Im folgenden entsprechend der Würde des Amtes nur noch Richter Di, 狄公案, Dí gōng àn, genannt.↩︎
  2. 公案小說, gōng​’àn xiǎo​shuō, dt. “Kriminalromane”, wörtlich “Richterpult-Geschichten”.↩︎
  3. ‹龍圖公案›, Lóng tú gōng’àn, eine zehnbändige Sammlung von Kriminalgeschichten über den Richter 包拯 alias 包公, Bāo Zhěng bzw. Bāo Gōng, auch mit dem Ehrentitel 包青天, Bāo Qīng tiān, bezeichnet. Das Werk ist ein weiteres Beispiel für die Popularität des Gong’an, also der Krimi-Geschichten, in deren Zentrum ein Mandarin steht.↩︎
  4. ‹南詔野史›, Nán​zhào yě​shǐ, dt. “Inoffizielle Geschichte des Nanzhao-Reiches (738-937)”. Gulik lag die französische Übersetzung “Histoire Particuliere du Nan-tchao” (1904) von Camille Sainson vor.↩︎
  5. ‹堂陰比事›, táng yīn bǐ shì, auf Englisch erschienen als “Parallel Cases from under the Pear-Tree: A 13th Century Manual of Jurisprudence and Detection” [4]. Das Buch wurde über Jahrhunderte in der chinesischen Rechtsprechung als Referenz herangezogen. Die englische Übersetzung stammt, wie könnte es anders sein, von Robert van Gulik. Leider ist die Ausgabe vergriffen bzw. nur zu Liebhaberpreisen erhältlich.↩︎
  6. “This translation is chiefly a product of the Pacific War years, 1941-1945, when constant travel on various war duties made other more complicated Sinological research impossible.” Quelle: Vorwort der englischen Ausgabe der Übersetzung [2], siehe bspw. hier.↩︎
  7. 武則天, Wǔ​ Zé​tiān, chinesische Kaiserin von 690–705. Der ursprüngliche chinesische Richter-Di-Roman [1] war also bereits als historischer Roman konzipiert. Während ihrer Regierungszeit ließ sie sich 武曌, Wǔ Zhào, nennen, wobei sie das zweite Zeichen extra für sich hatte erfinden lassen. Der posthume Name der Kaiserin war 武后, Wǔ Hòu, wobei das Zeichen 后 stets eine Kaiserin bezeichnete. Erst im Zuge der sog. Vereinfachung der chinesischen Zeichen im 20. Jahrhundert wurde 後 (hòu, hinter, dahinter) ersetzt durch 后 (die Kaiserin).↩︎