Mo Yans ‹Kanonenschläge› als Parabel auf das moderne China?

Einer der im Westen bekanntesten Vertreter zeitgenössischer chinesischer Literatur ist der Autor Mo Yan (geb. 1955, Literaturnobelpreis 2012). Die meisten seiner Romane sind auf deutsch erhältlich, das Buch ‹Kanonenschläge› jedoch nicht – trotz der zentralen Bedeutung für Mo Yans Werk und trotz der ausdrücklichen Bezüge zur deutschen Literatur.

„Vor zehn Jahren, an einem Wintermorgen – ein Morgen im Winter vor zehn Jahren…” Mit dieser Verwirrung des Erzählers beginnt der Roman ‹Kanonenschläge›. Man will dem Ich-Erzähler, Luo Xiaotong, einem jungen Mann von höchstens zwanzig Jahren, keinen Vorwurf aus seiner Unentschlossenheit machen; nach der Lektüre des Buches wissen wir, welche erschreckenden Umstände ihn ‘am Ende’ in das Wutong1-Kloster führen, wo er einem Einsiedler seine Vergangenheit darlegt. Anfangs noch stockend nimmt die Geschichte schnell Fahrt auf. Zusammen mit dem Erzähler und dem Mönch gerät man als Leser in einen Strudel, der in die tiefsten Abgründe der modernen chinesischen Gesellschaft führen wird.

Der Vater Luo Xiaotongs war Ende der achtziger Jahre mit seiner Geliebten durchgebrannt; man hatte im Dorf des Erzählers nie wieder von ihnen gehört. Die Mutter, alleinerziehend, kämpft verbittert um das Überleben und jedes bisschen Wohlstand, das die 1990er Jahre China bringen. Mit brutaler Sparsamkeit gegen sich genau wie gegen das Kind erringt sie ein neues „schindelgedecktes” Haus und einen Traktor. Die vegetarische Ernährung der beiden wird zum Symbol dieser Härte; der Erzähler wünscht sich nichts sehnlicher als eine große Portion Fleisch, wie sie sein Vater regelmäßig zubereitete.

Mehr noch, Fleisch wird zum Vehikel des Aufschwungs des Dorfes, das im Buch nur „Schlachterdorfe” genannt wird. Die Dorfbewohner spezialisieren sich auf diesen Wirtschaftszweig: sie schlachten und essen, schlachten und verkaufen und schwelgen. Doch der kapitalistische Wettbewerb ist hart und man weiß sich der Konkurrenz nicht anders zu erwehren als mit unlauteren Mitteln. Das Fleisch wird „geschwemmt”, quasi aufgeblasen, und entgegen der Vorschrift mit Chemikalien versetzt, um es haltbar zu machen. In dieses toxische Umfeld kehrt plötzlich der Vater ohne die Geliebte zurück. Er versöhnt sich mit seiner Familie und mit dem Dorfvorsteher; sie gründen eine Fleischverarbeitungsanlage. Auch die Fabrik kommt nicht ohne Tricks aus, und die Pläne des Dorfvorstehers kollidieren zunehmend mit der ethischen Haltung des Vaters von Luo Xiaotong.

Mo Yans Romane schildern Chinas gewaltige Umbrüche aus der Perspektive der einfachen Bevölkerung. In ‹Die Sandelholzstrafe› ist es die Kolonialisierung und das zusammenbrechende Kaiserreich, in ‹Das rote Kornfeld› der sino-japanische Krieg, und in ‹Kanonenschläge› eben die Möglichkeiten und Gefahren einer postsozialistischen Marktwirtschaft. Im Buch wird die Verunsicherung der Menschen in einer ‘neuen Welt’ aufgezeigt anhand von Konfliktlinien zwischen Generationen (Eltern versus Sohn), zwischen Macht und Reichtum (Mutter des Erzählers versus Dorfvorsteher), zwischen Vitalität (Vater des Erzählers versus sterbenskranke Ehefrau des Dorfvorstehers) und Ideologien (Marktwirtschaft versus Klosterleben).

Die Armut im ersten Teil des Romans kontrastiert mit dem Überfluss im zweiten Teil; Fleisch wird zum Symbol des Wohlstandes und des chinesischen Wirtschaftswunders, das nach 1990 immer weiter Fahrt aufnahm. Die Zustände im fleischverarbeitenden Gewerbe, damals wie heute, zeigen die Logik einer Entwicklung hin zu immer kriminelleren Handlungen auf. Dabei bietet der Roman einen Spiegel für die Fleischverarbeitung hierzulande, die zu Recht immer kritischer gesehen wird, wie zuletzt die lokalen Ausbrüche des SARS-Coronavirus vor Augen geführt hatten.

Wirtschaftliche und sprachliche Entwicklung im Roman ‹Kanonenschläge› schießen dabei weit über einen Realismus hinaus: In der Fleischfabrik sieht man sich gezwungen, zu abscheulichen Methoden zu greifen; die Sprache schwappt zunehmend zu einer grotesken Fantastik über und der Ich-Erzähler wird als Vermittler der Erzählung immer unzuverlässiger, geradezu unverständlich. In Mo Yans ‹Schnapsstadt› scheitert der Untersuchungsbeamte an der Ermittlung, in ‹Kanonenschläge› die Protagonisten an gewalttätigen Auseinandersetzungen und der kindische Erzähler an der eigenen Geschichte.

Im Nachwort des Buches gewährt uns Mo Yan Einblick: „Viele Leute wünschen sich häufig, sei es bewusst oder unbewusst, dass sie niemals erwachsen hätten werden müssen. Für dieses gehaltvolle Thema interessierte sich Günter Grass schon vor Jahrzehnten […] Oskar ist die Hauptperson in Grass’ ‹Blechtrommel› (1959) und wird zum Zeitzeugen von viel Abartigkeit in der Welt. Das Buch ‹Kanonenschläge› ist mein Ansatz in entgegengesetzter Richtung. Rein körperlich ist Luo Xiaotong ein erwachsener Mann, aber eben nicht mental.” Gleichzeitig verweigert sich der Autor der Interpretation: „Was das Buch nun bedeuten soll? Dazu habe ich nichts zu sagen. Ich war schon immer stolz darauf, keine Ideologien bemühen zu müssen, vor allem wenn ich schreibe.”

Mo Yan 2008 in Hamburg
By Johannes Kolfhaus, Gymn. Marienthal – [1], CC BY-SA 3.0

Mo Yan schreibt für sich und damit für ein China, das sich (dem fremden Blick) nicht aufdrängt. Er schreibt ohne zu verklären vom Leid und Heroismus der einfachen Leute in einer flotten, dahergeredeten Sprache und den Mitteln der Komödie. Man darf den Autor Mo Yan nicht zu ernst nehmen, und erst recht nicht voreilig beiseite legen.

Die englische Übersetzung unter dem Titel ‹Pow!› durch Howard Goldblatt sorgte 2012 für einigen Widerhall; die deutsche dagegen fehlt bis heute, obwohl nach Verleihung des Nobelpreises nur ein weiterer Roman übersetzt wurde, ‹Frösche› (2009, übersetzt 2013). Die Bedeutung für das Werk Mo Yans und die Aktualität der Handlung des Romans (nach nun fast zwanzig Jahren) lassen uns daher zu Goldblatts Übersetzung greifen.

Von F. Borchers, DAAD-China 2012/13

POW! von Mo Yan, Originaltitel: Sishiyi Pao (wörtlich: 41 Schläge), in englischer Übersetzung von H. Goldblatt, ISBN 978-0857422217

¹Wutong (wörtlich ‘Fünf übernatürliche Geister’) war eine Sekte im südlichen China, deren Religiosität sich um den Glauben an fünf bösartige Gottheiten aufbaute. Von diesen Göttern heißt es, dass sie ihre Gestalt wandeln konnten, als Menschen verkleidet über Frauen herfielen und ihnen den Verstand raubten. Nicht selten, so die Legende, endeten diese Begegnungen für die Frauen tödlich.