Chinesische Gedichte der Tangzeit

Ein typisches Beispiel für ein Tang Gedicht

Zwischen den modernen Gegenden Pekings und dem Komfort des Klassenraums findet sich keine Poetik der chinesischen Vergangenheit. Doch der Schein trügt. Im Gespräch mit YANG Donghui und Andreas BLUMHOFER beleuchten wir die Bedeutung der Gedichte der Tangzeit (617-907) für das China des 21. Jahrhunderts.

Als ich selbst noch in Peking Chinesisch lernte, kam im Unterricht einmal das Gedicht “Am Morgen Baidi verlassen” vor, das sich auch in Ihrem Gedichtband wiederfindet. Ich musste es damals auswendig lernen; beim Rezitieren vor chinesischen Freunden war ich überrascht zu sehen, dass sie es nicht nur selbst aufsagen konnten, sondern augenblicklich von einer bemerkenswerten Erregtheit ergriffen wurden. Können Sie mir das erklären?

Yang: Die Tang-Gedichte haben im Herzen der Chinesen einen ganz besonderen Platz. Sie sind ein Schatz unserer chinesischen Kultur. Viele herausragende Tang-Gedichte erreichen nicht nur ein sehr hohes literarisches Niveau, sondern verwenden auch prägnante und leicht verständliche Wörter. Sie werden vom Volk geliebt und von Generation zu Generation weitergegeben. Das Gedicht “Am Morgen Baidi verlassen”, das Sie erwähnt haben, ist ein Werk des Dichters Li Bai in seinen späteren Jahren. Es beschreibt die Sehnsüchte und Gefühle des Dichters, als er an den Drei Schluchten des Jangtse vorbeifuhr. Fast alle Chinesen können dieses Gedicht rezitieren, welches dadurch in ihnen leicht Emotionen wecken kann. Wenn ein Nicht-Muttersprachler nicht nur Chinesisch sprechen kann, sondern auch Tang-Gedichte versteht, erfreut es die Zuhörer besonders in ihrem kulturellen und geistigen Empfinden.

Welche Bedeutung hat jahrtausendealte Dichtung für Chinesen heute?

Yang: Es besteht kein Zweifel, dass die Tang-Gedichte auf dem Höhepunkt der chinesischen Literatur stehen. Die Dichter der Tang-Dynastie, Li Bai, Du Fu, Wang Wei, Bai Juyi, Meng Haoran, usw., schufen eine große Anzahl schöner Gedichte, die zu einem fruchtbaren Boden für die Entwicklung der Ästhetik geworden sind. Auch haben die Wertvorstellungen der Tang-Dichter spätere Generationen Chinas stark beeinflusst. Zum Beispiel beschreibt der Dichter Meng Jiao in seinem Werk “Das Lied vom Wanderer” auf zarte Weise die mütterliche Liebe und seufzt: “Denn wer sagt, dass das junge Gras die Wärme der Frühjahrssonne zurückgeben kann.” Dies ist seit mehr als tausend Jahren im Herzen der Chinesen geblieben. Wer kann sagen, dass die heutigen chinesischen Familiengefühle nichts damit zu tun haben? Die zentralen Themen der Tang-Gedichte sind Liebe, Freundschaft, schöne Natur, Nostalgie für die Heimatstadt, Sympathie für das Mühsal der Arbeiter und Hilflosigkeit gegenüber dem Krieg. Dies sind bis heute die wichtigsten emotionalen Elemente unseres Lebens. Daher tauchen die Tang-Gedichte bis heute nicht nur häufig in Filmen, Romanen und anderen literarischen Werken auf, sondern auch in unserem Alltag. Tang-Gedichte werden wieder in politischen Reden zitiert, bei literarischen und künstlerischen Darbietungen vorgetragen, sind in Form von Kalligraphie-Kunstwerken in unserem Zuhause allgegenwärtig und finden sich auch auf Geschenken für unsere Freunde. Tang-Gedichte gehören zu China und auch zur ganzen Welt. Sie werden nicht nur von Chinesen, sondern auch von Menschen überall auf der Welt geliebt. Um nur ein Beispiel zu geben: Als Ende 2019 die Corona-Pandemie in China ausbrach, spendeten japanische Organisationen medizinisches Material und schickten es mit einem Zitat aus einem Tang-Gedicht nach China1, um auszudrücken, dass unsere zwei Länder im gleichen Boot sitzen. Diese Nachricht hat ganz China berührt.

Sie selbst haben jahrelange Erfahrung im Unterrichten der chinesischen Sprache. Dem deutschen Leser und Chinesisch Lernendem fehlt es an so vielem; warum ausgerechnet Tang-Gedichte?

Yang: Aufgrund der Bedeutung der Tang-Gedichte in der chinesischen Kultur und ihres Einflusses auf die chinesische Nation ist es sowohl für chinesisch Lernende als auch für diejenigen, die China verstehen wollen, wichtig, einen Zugang zu Tang-Gedichten zu finden. Ein Sprichwort besagt: Tang-Gedichte sind für die chinesische Kultur das, was die DNA für die Menschheit ist. Sie sind also ein Schlüssel zum Verständnis der chinesischen Kultur. Darüber hinaus sind einige Tang-Gedichte zwar tiefgreifend, aber nicht schwer zu erlernen. Zum Beispiel beschreibt das Gedicht “Den Storchenturm hinauf” von Wang Zhihuan nicht nur die Landschaft, sondern enthält auch philosophische Gedanken. Das gesamte Gedicht enthält nur 20 Wörter; 18 davon sind Grundzeichen (z.B.: 日 Sonne, 山 Berg, 河 Fluss, 白 Weiß, 一 Eins, 千 Tausend usw.). Es ist leicht vorzulesen und kann als Sprachtraining für Anfänger verwendet werden. Dieses Gedicht bietet sich also als Material an, um Chinesisch zu lernen.

Das Format Ihres Buches richtet sich ja ausdrücklich an Chinesisch Lernende. Sie vereinbaren das Original in klassischem Chinesisch mit Pinyin und Übersetzung, und einem Sofort-Nachschlagen im Wörterbuch. Wie kam es dazu?

Blumhofer: Ich kannte damals einzelne Tang-Gedichte auch nur aus dem Chinesisch-Unterricht und kaufte mir deshalb ein paar Gedichtbände, darunter auch einige sehr schöne Übersetzungen. Ich fand es überraschend, dass die deutschen Texte von verschiedenen Autoren teilweise stark differierten. Natürlich trägt das den verschiedenen Aspekten des Inhaltes Rechnung, da für jeden Autor nun etwas anderes wichtig ist. Um diese verschiedenen Übersetzungen besser zu verstehen, wollten wir einen direkten Zusammenhang zwischen chinesischem Original und freier Übersetzung herstellen. Das war nur möglich mit größtmöglicher Transparenz, also durch das wörtliche Aufschreiben der Silben und ihrer Übersetzung. Das gab uns auch die Möglichkeit, einzelne Satzteile zu kommentieren. Ohne diese Anmerkungen fiele es dem deutschsprachigen Leser schwer, das Gedicht zu erfassen. Die silbenweise Übersetzung soll nicht nur den Leser zu eigenen Übersetzungen anregen, sie hat auch uns immer wieder gezwungen, unsere Übersetzung zu überdenken um zu einem möglichst wörtlichen Resultat zu gelangen. Das Dichten im Spannungsfeld zwischen der Harmonie des Originals und der deutschen Reim-Ästhetik fand ich besonders reizvoll und herausfordernd. Einige Übersetzungen sind besonders gut gelungen, auch wenn das chinesische Original nie dadurch gänzlich erfasst werden kann. Genau deshalb stehen sich beide in unseren Büchern gegenüber. Und schließlich soll auch das Pinyin helfen, die Gedichte im Chinesischen selbst vorzutragen.

Chinesische Dichtung ist dem deutschen Leser zunächst völlig fremd. Versmaß, Reim, Strophe – all die Konzepte scheinen in den Tang-Gedichten nicht zu existieren. Wie liest man Tang-Gedichte?

Blumhofer: Es ist als Europäer tatsächlich schwer, die Ästhetik eines Tang-Gedichtes zu erfassen. Ich lerne da auch mit jedem neuen Gedicht dazu, versuche die Laute und Schwingungen mit in die Übersetzung zu ziehen. Durch die klassische deutsche Lyrik sind wir sehr stark auf Reime fokussiert, die im Chinesischen oft weit auseinander stehen, so dass man Mühe hat, sie beim Lesen zu erfassen. Wer gerne das chinesische Original lesen und erfahren möchte, dem empfehle ich fünfsilbige Gedichte. Der Frühlingsmorgen von Meng Haoran ist dafür besonders geeignet, da man nicht nur den Reim erkennt, sondern auch spürt, welcher Effekt von jedem Laut ausgeht. Durch die wenigen Silben und die einfache Sprache ist es dem Leser möglich, die Stimmung des Gedichtes und ihre Wendung zu erfahren. In unseren Übersetzungen sind oft mehr Reime als im Chinesischen, weil ein deutsches Gedicht durch den Reim sehr stark an Harmonie gewinnt, die im Chinesischen oft in der Auswahl der Laute und der Töne schon verborgen ist und des Reimes meist nicht bedarf.

Die Gedichte sind dem Inhalt nach sehr naturverbunden: Nacht und Mond, Regen und Flüsse – überhaupt Wasser! Müssen wir uns die gesamte Tang-Literatur romantisch vorstellen?

Blumhofer: Die großartige Beschreibung der Natur liegt nahezu in jedem Tang-Gedicht, bildet oft den Einstieg, begleitet das Gedicht oder wird gar zum ganzen Inhalt. Manche vorkommenden Akteure sprechen sogar mit dem Mond. Irgendwie ergreift uns da immer eine gewisse Romantik, was auch viele schon zu ausschweifenden Übersetzungen verleitet hat. Wie auch in anderen Kulturkreisen wurde hier die Romantik in ihren Ausprägungen durch die aktuellen politischen Verhältnisse, besonders durch die katastrophalen Folgen des An-Lushan-Aufstandes2 beeinflusst. So sind die Tang-Gedichte meist von Sorgen und wehmütigen Gedanken durchzogen und vermitteln so eher eine melancholische Stimmung. Die Einbeziehung der Umgebung, ja gar der ganzen Welt oder des ganzen Universums in die eigene Gedankenwelt hebt das Bewusstsein auf eine höhere Ebene, in der man die Inhalte viel intensiver wahrnimmt.

Dennoch, die Gedichte erscheinen mir als westlichem Leser schreiend unpolitisch. Hatten die Tang-Dichter keine Ambition, ihre Meinung zu äußern?

Yang: Kritik am Kaiser in der Kaiserzeit Chinas kann große Gefahren mit sich bringen. Man hätte sein Leben riskiert. Daher gibt es wenige direkte politische Ausdrücke in den bekanntesten Tang-Gedichten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Tang-Gedichte nichts mit Politik zu tun hätten. Tatsächlich waren einige Dichter der Tang-Dynastie in politischen Streit verwickelt, wie der größte Dichter Li Bai. Das Gedicht “Am Morgen Baidi verlassen”, das Sie zuvor erwähnt haben, ist nicht nur ein Gedicht, das Landschaften beschreibt, sondern hat einen politischen Hintergrund und ist mit dem Schicksal des Dichters verbunden. Einige Dichter haben Kriege und das Leid der Gefangenschaft erlebt, wie Du Fu. Diese hinterließen Spuren in seinem Gedicht “Frühlingsaussicht”. In unseren Büchern werden diese historischen politischen Hintergründe kurz eingeführt.

Nach welchem Prinzip haben Sie die Auswahl der Gedichte getroffen?

Yang: Zum einen möchten wir die wichtigsten Dichter der Tang-Dynastie und ihre bekanntesten Werke in unserem Buch vorstellen. Zweitens soll sein Inhalt vielfältig sein. Wir haben für das erste Buch kurze und leicht verständliche Gedichte ausgewählt, die für Anfänger bestens geeignet sind. Für das zweite Buch zwei lange Erzählgedichte ausgewählt, die sich an Leser richten, die das Studium der Tang-Gedichte vertiefen möchten. Durch ihre fortlaufende Handlung und Wortwahl sind sie jedoch auch leicht verständlich. Unser drittes Buch steht kurz vor der Veröffentlichung. In diesem Buch möchten wir Gedichte der Song-Dynastie vorstellen, die in deutschsprachigen Übersetzungen kaum vertreten sind. Umso mehr wird der Leser in diesem Buch eine weitere Perle der chinesischen Kultur entdecken.

Haben Sie ein Lieblingsgedicht?

Blumhofer: Der Frühlingsmorgen von Meng Haoran war eines der ersten Gedichte, mit denen ich mich beschäftigt habe und das mich für die Tang-Literatur begeistert hat. Ich habe es selbst zu einer chinesischen Neujahrsfeier vorgetragen. Deshalb hat Donghui mir auch davon eine Kalligraphie geschenkt, ein Werk ihres Vater, die dann auf dem Umschlag unseres ersten Buches ihren Ehrenplatz gefunden hat.

早發白帝城, 李白 “Am Morgen Baidi verlassen” von Li Bai
朝辞白帝彩云间 Baidi verließ ich am frühen Morgen, in farbige Wolken gerückt.
千里江陵一日还 Den langen Weg hinab nach Jiangling, in einem Tag war ich zurück.
两岸猿声啼不住 Von beiden Ufern tönten die Affen in ständigem Jubelgeschrei.
轻舟已过万重山 So kam das Boot auf seiner Fahrt an unzähl’gen Bergen vorbei.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autoren.

Die Fragen stellte Florian Borchers (S&P China 2012/13).


Chinesische Gedichte der Tangzeit: Lesen – Übersetzen – Verstehen; Auswahl und Format: YANG Donghui; übersetzt von Andreas BLUMHOFER; erschienen 2015 bei BoD Norderstedt; gebundene Ausgabe mit 123 Seiten; €24,90; ISBN 9783734732751

Vom Aufstieg und Fall: Die großen Tang-Gedichte von Bai Juyi; YANG Donghui und Andreas BLUMHOFER; erschienen 2017 bei BoD Norderstedt; gebundene Ausgabe mit 92 Seiten; €14,90; ISBN: 9783744894913


  1. Das Zitat lautet: 山川異域, 風月同天 aus der Sammlung 全唐诗, etwa: “Berge und Flüsse trennen die Welt, [aber] Wind und Mond [erscheinen] am selben Himmel.” Von dem Zitat auf der Sendung berichtet etwa CNN, wobei die Geste auch in einem größeren Zusammenhang gesehen werden kann. [Anm. d. Red.]
  2. Die An-Lushan-Rebellion war ein bewaffneter Aufstand, der ganz China von 755 bis 763 erschütterte. Die Tang-Dynastie konnte die Rebellion erst nach kriegsähnlichen Auseinandersetzungen niederschlagen. [Anm. d. Red.]