Das Sprache und Praxis-Programm war für den Jahrgang 24 ganz anders als erwartet – und findet aktuell von Deutschland aus statt. Ein Einblick von Stipendiatin Gesine Weber in den Alltag mit Online-Chinesischkursen und Motivation durch digitales Netzwerkprogramm auf 8.000 Kilometer Distanz.
Es ist Juni 2019, ein Mittwochmorgen in Berlin, und ich habe gerade meinen Flug nach Peking gebucht – mit zwei Koffern, One-Way. Nach langem Überlegen, ob ich nicht doch eine tolle Einstiegsmöglichkeit in Brüssel annehmen oder meinen Job in Berlin behalten sollte, steht fest: Ich werde für sechzehn Monate nach China gehen, um dort mit dem “Sprache und Praxis”-Stipendium des DAAD zehn Monate Chinesisch zu lernen und im Anschluss eine sechsmonatige Praxisphase zu absolvieren. Die Reaktionen in meinem Umfeld variieren von “Sicherheitspolitik und Chinesisch, das ist eine krasse Kombi” über “Du bist halt einfach verrückt genug dafür” bis hin zu “Jeden Tag chinesisches Essen, sehr nice, nur pass auf, dass du keine Katze isst”. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich bereits mit alten Menschen am Pekinger Houhai-See auf Chinesisch über Straßensnacks fachsimpeln oder bei Unternehmensbesuchen kritische Fragen über politische Komponenten der Arbeit deutscher Unternehmen in China stellen. Als ich meine zukünftige Mit-Stipendiatin Amelie wenige Tage später zum veganen Frühstück in einem Berliner Hipster-Café treffe, ist die Vorfreude schwer zu bändigen. Wie wird unser Leben in einem Jahr aussehen – sprechen wir dann fließend Chinesisch und können uns vor Praktikumsangeboten kaum retten? Auf eine der vielen Fragen, die uns durch den Kopf schwirren, kennen wir die Antwort: Ganz sicher werden wir den nächsten Juni in Peking verbringen, vielleicht desillusioniert von den Sprachkursen und dem Leben, aber (hoffentlich) trotzdem jeden Tag begeistert vom Leben in der Hauptstadt Chinas.
Zeitsprung: Es ist Juni 2020, ein eigentlich viel zu warmer Junimorgen in Dreifelden, einem 230-Seelen-Dorf im Westerwald, ich sitze mit iPad und Smoothie-Bowl auf der Terrasse im Garten mit Blick auf strahlend grüne Apfelbäume – dieses Setup verdient einen Post in meiner Insta-Story. Nach knapp sieben Kilometern Lauf um den Dreifelder Weiher habe ich gerade auf Chinesisch eine WeChat-Nachricht an meine Lehrerin eingesprochen und das perfekte Geschenk für eine Hochzeit in Deutschland beschrieben, das Zwitschern von Vögeln im Hintergrund ist deutlich zu hören. Zugegebenermaßen, dieses Lernumfeld ist idyllisch – und wahrscheinlich das beste, was mir nach dem Ausbruch der weltweiten COVID19-Pandemie passieren konnte. Es ist ein Privileg, im großen Haus mit Garten, unmittelbar in der Natur, weiterhin mit Stipendium an meinen Chinesischkenntnissen zu arbeiten, die nun auf einem Niveau sind, von dem ich vor einem Jahr nur träumen konnte. Dazu kommen immer wieder spannende Gespräche im Rahmen des “digitalen Netzwerkprogramms”, das ich mit Hilfe des Alumni-Vereins für unsere Gruppe als Ersatz für die Unternehmensbesuche auf die Beine gestellt habe; diese Gespräche sind immer wieder aufs Neue inspirierend, weil die Alumni, mit denen wir sprechen, meist vor Begeisterung für ihre Tätigkeit regelrecht sprühen – und für unsere Gruppe immer ein motivierendes 加油 (jiā yóu, weiter so!) auf den Lippen haben, weil für unseren Jahrgang, S&P24, einfach alles anders ist. Und weil jede*r von uns die Tage zählt, bis wir, nachdem wir auf Anweisung des DAAD im Februar nach Deutschland zurückkehren mussten, wieder zurück nach China reisen können.
Online-Kurs à la chinoise – Disziplin wird mitgeliefert
Nächste Woche stehen die Chinesisch-Sprachprüfungen an, mit denen die Sprachphase nach zehn Monaten intensiven Sprachunterrichts endet – mehr als drei Monate davon fanden ausschließlich online statt. Wer Chinesisch gelernt hat, weiß: Es braucht Disziplin, Motivation und Zeit, um die Sprache nachhaltig zu lernen und anwenden zu können – und am besten ein chinesischsprachiges Umfeld, sodass sich Zeichen und Töne ganz natürlich einprägen. Während das chinesischsprachige Umfeld sich in Deutschland höchstens auf Gespräche mit Freund*innen via Skype und Zoom, Smalltalk beim Essen-Abholen beim Chinarestaurant oder Netflix-Serien beschränkt, setzen die Lehrer*innen alles daran, Disziplin beim Lernen und einen hohen Zeitaufwand auch im Rahmen von Onlinekursen sicherzustellen. Während manche Lehrer*innen ihre Kurse ausschließlich über Videos unterrichten, findet für die meisten Stipendiat*innen im Laufe des Vor-und Nachmittags der Sprachkurs per Videochat oder WeChat statt – aus dem digitalen Kursraum wahlweise im Bett, mit Kaffee von der Couch aus oder eben auf der Terrasse der Eltern und mit anderen Kursteilnehmer*innen, die von Vietnam, Russland, Sambia und Belgien aus teilnehmen. Allerdings geht der Unterricht weit über klassische Online-Lernprogramme hinaus, da gerade der Workload an Hausaufgaben dafür sorgt, dass man problemlos mehr als sechs Stunden täglich mit Chinesischlernen beschäftigt ist, natürlich ohne Grenze nach oben.
Diese sehr ungewöhnliche Fortsetzung des S&P-Programms hat zwei Seiten: Einerseits ist der Online-Unterricht sehr viel effektiver, als zu erwarten war, weil jede*r sich das Lernen einteilen kann, wie es am besten zum individuellen Lernverhalten passt. Für mich persönlich ist das mit Blick auf meine Lernmotivation eine enorme qualitative Verbesserung, weil ich nun quälend langweiligen Lehrmethoden, die ich für meinen Lernfortschritt als schlicht nutzlos ansehe – wie etwa gleichzeitig mit 14 Teilnehmer*innen im Sprachkurs einen Text laut vorzulesen oder nachzusprechen – entgehe. Individuelles Feedback der Lehrer*innen ist jederzeit möglich, gleichzeitig kann man seinen Lernprozess selbst steuern und sich auf jene Inhalte konzentrieren, bei denen man einen tatsächlichen Mehrwert für die eigenen Lernziele sieht. Auch der persönliche Einsatz der Lehrer*innen fürs Lernen ist bemerkenswert: Abgesehen von täglichen Korrekturen der (sehr umfangreichen) Hausaufgaben ist es jederzeit möglich, Nachfragen zu stellen oder beispielsweise zusätzliche Aufgaben zu besprechen. Zumindest für den Westerwald auch die Inhalte sehr lebensnah: Wer kann schon von sich behaupten, auf Chinesisch die Anforderungen an Imker*innen oder das Leben leidenschaftlicher Angler*innen beschreiben zu können?
Trotz all seiner Stärken kann der Online-Unterricht andererseits die Vorteile des chinesischsprachigen Umfelds nicht kompensieren: Der klare sprachliche Mehrwert des S&P-Stipendiums besteht darin, dass man zehn Monate lang komplett ins chinesische Leben eintauchen kann. In Peking ist man faktisch nahezu gezwungen, im Alltag Chinesisch zu sprechen: Der Smalltalk vor acht Uhr morgens mit dem Verkäufer unserer Lieblings-包子(bāozi, gedämpfte Teigtaschen), der sich nach drei Tagen Abwesenheit besorgt nach dem Verbleib meines “großen deutschen Freundes” erkundigt, alternative Wegbeschreibungen für den Taxifahrer, oder Ratschläge von alten Frauen im Park, wie ich am besten einen 上海丈夫 (Shànghǎi zhàngfu, Shanghai-Ehemann – gelten als die besten Ehemänner Chinas) finde – all diese Gespräche sind nicht nur für unvergessliche interkulturelle Erfahrungen, sondern auch für eine aktive und selbstsichere Sprachanwendung unverzichtbar.
Motivation und Inspiration durch engagierte Alumni und Alumnae
„Ihr werdet euch richtig viele Fabriken anschauen, du siehst, wie Maschinen gebaut werden und redest mit Leuten über ihre Arbeit, die du in deiner Politik-Blase wahrscheinlich nie kennengelernt hättest – das ist super spannend!“ Es war dieses Gespräch mit einer Alumna des S&P-Programms, die ebenfalls ein politikwissenschaftliches Fach studiert hatte, das meine Entscheidung für das Programm vor einem Jahr maßgeblich beeinflusst hat. In meinen Augen ist das Begleitprogramm mit Unternehmensbesuchen und Gesprächen bei Unternehmen und Institutionen der zentrale Trumpf des S&P-Stipendiums, der es von anderen Sprachstipendien abhebt. Auch wenn ich schon immer sehr gut Chinesisch sprechen lernen wollte, war ich realistisch genug, um daran zu zweifeln, dass ich jemals ein ähnliches, fast-muttersprachliches Niveau wie im Französischen erreichen würde. Umso bitterer war für mich, dass die geplanten Studienfahrten nach Shanghai und Shenzhen auf Grund der COVID19-Pandamie ausfallen mussten. Im März war aus “Sprache und Praxis in China” gefühlt “lerne Chinesisch am Schreibtisch im Westerwald” geworden, ein Szenario, das mich zu stark an meine Abi-Zeit erinnerte – und dazu veranlasste, gemeinsam mit dem Alumni-Verein ab April das “digitale Netzwerkprogramm” zu starten. Schon in Peking waren es für mich persönlich vor allem die Unternehmensbesuche bei Alumni, die einen wirklich nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben, und die Bereitschaft von Alumni und Alumnae, uns auch über 8.000 Kilometer Luftlinie zu unterstützen, war überwältigend. Über Zoom besichtigten wir virtuell Produktionshallen und diskutierten über zivile Drohnen, chinesisches Impro-Theater, Startups in Shenzhen, den chinesischen Camping-Markt, interkulturelle Herausforderungen an Führungspersonal, deutsch-chinesische Ehen – all das wenn überhaupt freiwillig im Business Formal Dresscode, den wir von den Pekinger Unternehmensbesuchen kannten, dafür mit Kaffee und manchmal auch in Jogginghose bei virtuellen Frühstücksdebatten. Aus den Gesprächen habe ich die unterschiedlichsten Eindrücke über Deutschland und China, Wirtschaft, Gesellschaft und Menschen mitgenommen – und die Erkenntnis, dass es ein hohes Maß an Contenance erfordert, ruhig weiterzusprechen, während mein Kater, natürlich für alle Teilnehmer*innen im Gespräch gut hörbar, direkt neben mir eine Maus zerlegt.
“Wann wirst du zurückfliegen nach China?” Hätten wir für jedes Mal, in dem man uns diese Frage stellt, einen Euro bekommen, wäre der Flug sicher finanziert, gefühlt in der Business Class. Auch wenn China seine Grenzen für Ausländer*innen im Moment noch geschlossen hat, ist eine Rückkehr für die Praxisphase geplant. Die Gespräche mit den Alumni und Alumnae machen nicht nur deutlich, wie divers die Karrierewege nach dem S&P-Programm sind und wie der Jobeinstieg in China gelingen kann, sondern eröffnen oftmals auch Möglichkeiten für Praktika – genauso wie die zahlreichen Gespräche, die Melanie Späthe, seit Mitte Mai nun endlich als neue Programmkoordinatorin für unseren Jahrgang zuständig, organisiert. Gerade mit Praktikums-oder Jobzusage aus China beginnt die eigentliche Geduldsprobe: Jedes Mal, wenn die App des Auswärtigen Amts eine Aktualisierung der Reisehinweise für China auf dem Smartphone-Bildschirm aufspringen lässt, hofft man inständig auf eine Änderung der Einreiseregelungen für Ausländer*innen – und braucht danach momentan Motivationsschokolade oder eine motivierende Wechat-Nachricht der Freund*innen aus dem Programm, die genauso die Rückkehr nach China kaum erwarten können. Beschäftigung bis dahin ist uns jedoch sicher: Nach den Klausuren wartet statt Sommerferien noch ein vierwöchiger Business Chinese Kurs auf uns.
Zeitsprung, Juni 2021: Im besten Fall sitze ich jetzt in meinem Job in Shanghai, spreche noch besser Chinesisch – vor der Arbeit war ich am Bund joggen, danach treffe ich mich mit denjenigen aus meinem Jahrgang, die in Shanghai geblieben sind für 小笼包 (xiǎolóngbāo, mit Suppe gefüllte Teigtaschen) in der ehemaligen French Concession oder auf einen Drink im Ausgehviertel Xintiandi…
Zeitsprung zurück, Juni 2020: Keine Vorhersagen mehr, auch keine Vorstellungen, so verführerisch sie auch sein mögen. Stattdessen tippe ich eine Whatsapp-Nachricht an Amelie, wir verabreden uns für nächste Woche im vegetarischen Sichuanrestaurant in Berlin-Charlottenburg. Um dort mit gehobenem Smalltalk auf Chinesisch glänzen zu können und morgen früh im Kurs ein “你的回答很正确” (”sehr präzise Antwort”) über WeChat von meiner Lehrerin zu hören, sollten aber erst einmal die Chinesischhausaufgaben erledigt werden, was mich zurück ins Hier und Jetzt führt.