Das neue Buch von Liao Yiwu[1] spielt als Bildungsroman im China der Kulturrevolution. Der Protagonist Zigui schlägt seinen Vater ins Gesicht und folgt Maos ersten Rufen nach Peking. Als glühender Anhänger hat er keinen Schimmer von der Wirrnis, die die nächsten 10 Jahre bedeuten werden. Alles Alte wollen die Roten Garden zerstören, Leid ist zweitrangig, solange man das richtige Zitat aus der kleinen roten Mao-Bibel parat hat. Umzudenken lernt er erst, als seine Freundin in den Kämpfen der Kulturrevolution umkommt – kurz bevor die Garden als “Gebildete Jugendliche” zur Umerziehung aufs Land geschickt werden.
Für Zigui ist es eine Reise in die Vergangenheit des Landes und als Gebildeter Jugendlicher sagt ihm keiner, wie was zu laufen hat. Zigui wird weder um- noch überhaupt erzogen, verwildert zunehmend, stiehlt, seine neue Freundin vergewaltigt er gar. Doch wollen Leser (und Autor) die Hoffnung nicht aufgeben, Zigui würde sich bessern: Desillusioniert und polizeilich gesucht verkriecht er sich im Grenzgebiet zu Tibet. Wo könnte die Einkehr besser erfolgen als in den Bergen? Alle Versuche der Erziehung waren bisher erfolglos, aber vielleicht gelingt es der Einsamkeit? Man spürt, für den Protagonisten ist es Zeit, höchste Zeit, für Schuldeingeständnis, Reue, Läuterung und “Bildung”. Doch vergeblich, Zigui ist für niemanden da: seine dritte Freundin verlässt ihn grußlos, die vierte nun lässt er schwanger in den Bergen zurück – Liebe in den Zeiten Mao Zedongs.
Der Roman gehört wie Márquez’ ‹Die Liebe in den Zeiten der Cholera›[2] dem Genre des fantastischen Realismus an. Den Hintergrund des Romans bildet das historische China von 1966-76, die Erzählung selbst oszilliert zwischen Wirklichkeit und Fantastik. Gewandt bewegt sich der Autor dabei durch die klassische, nicht nur chinesische Literatur, die Übersetzer erklären die Anspielungen in über 80 Fußnoten. Liao Yiwu ist aber kein Romancier, der einen in eine fremde Welt abtauchen lässt. Immer wieder springt er ein jenseits der Erzählstimme, ordnet, bewertet, beteuert. Für den Dokumentarbuchautor Liao Yiwu ist diese Stimme natürlich, es ist seine eigene Stimme, mit der er in seinen vielen Interview-Sammlungen als Gesprächspartner einen Platz hat, vgl. etwa ‹Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch›. Nur verwendet er sie im Roman nicht ohne den Erzählfluss zu stören. Der Text hätte ein größeres Vertrauen in die Kraft der Literatur durchaus verdient.
Alles ist verrückt in dieser Zeit, die die Partei bereits wenige Jahre nach Maos Tod in einer Resolution als Fehler bezeichnet: “Die Kulturrevolution war verantwortlich für den größten Rückschlag und die schwersten Verluste für die Partei, den Staat und das Volk”. Ein Fehler, an dem Zigui seinen (fiktiven) Anteil hatte. Er ist zwar schuldig, nicht jedoch in den Augen seiner Mitmenschen: sein Missbrauchsopfer deckt ihn vor Verfolgung, die Schwangere schenkt ihm zum Abschied ein Pferd für die Heimkehr, sein polizeilicher Haftbefehl wird aufgehoben. Anders als Márquez’ Protagonist bleibt Zigui in seinen späteren Jahren nicht allein, er findet Familie und Beruf, wird “Astronom und Dichter”. Spät erfüllt sich sein Schicksal, das sich dem chinesischsprachigen Leser bereits zu Beginn durch den Namen angekündigt hatte: Zigui, “der Sohn kehrt heim”[3]. Wie dieses Wunder geschehen sein soll, bleibt aus der Handlung heraus genauso unverständlich wie überhaupt die Möglichkeit einer bürgerlichen Existenz bei solchen Lehrjahren.
‹Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs›, Roman von Liao Yiwu, erschienen im Original 2016, in deutscher Übersetzung 2023 beim Fischer Verlag, 429 Seiten, €26, ISBN 978-3-10-397291-7
Zum Weiterlesen
Blick ins Buch ‹Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs›, Leseprobe des Verlages, bis einschl. Seite 45.
“Kulturrevolution in China: Ursachen, Verlauf und Folgen”, von Prof. Dr. Daniel Leese, erschienen in: “Aus Politik und Zeitgeschichte”, Bundeszentrale für politische Bildung, 2016
“Resolution zu bestimmten Fragen der Parteigeschichte seit der Gründung der Volksrepublik China”, Beschluss der KPCh von 1981, in englischer Übersetzung zugänglich, siehe ins. den Abschnitt “Das Jahrzehnt der ‘Kulturrevolution’”.
[1] Liao Yiwu, chinesisch 廖亦武 Liào Yìwǔ. Das Buch ist von 2016, aber die deutsche Übersetzung erschien erst in diesem Jahr.
[2] Der Titel ist eine bewusste, direkte Anspielung auf Gabriel García Márquez’ ‹Die Liebe in den Zeiten der Cholera›, was sich am chinesischen Titel ableiten lässt: Márquez’ Roman von 1985 heißt 霍乱时期的爱情, Liaos analog 毛時代的愛情.
[3] Zhuang Zigui, so der Name des Protagonisten, lautet auf chinesisch: 莊子歸, vereinfacht 庄子归, Pinyin Zhuāng zǐ guī.