China zwischen bitterer Armut und wirtschaftlicher Öffnung – Fang Fangs Roman “Glänzende Aussichten”

Die Autorin Fang Fang wurde mit dem ‹Wuhan Diary› von 2020 weltberühmt. Ihr Debütroman ‹Glänzende Aussicht› erschien bereits 1987, ist in China verboten, aber seit diesem Jahr in deutscher Übersetzung erhältlich.

Der Roman erzählt von der Armut einer Familie in Wuhan im China des 20. Jahrhunderts. Nahe am Existenzminimum ist das soziale Netz in den sechziger und siebziger Jahren äußerst dünn gestrickt. Man vertraut nur der Familie und sieht sich gezwungen, für das Überleben zu allen möglichen Tricks zu greifen: Wasser muss getragen werden, Gemüse wird nach Marktschluss aufgeklaubt. Man wohnt in “Baracken” (S. 13) in einem Slum, die ganze Familie schläft in demselben Raum; der älteste Sohn arbeitet in Nachtschicht, weil sonst kein Bett mehr für ihn frei ist. Der zweite Sohn wird zum Kohlenklau geschickt: “Die Familie brauchte Kohlen und die Familie hatte kein Geld, Kohlen zu kaufen. Sie sich ohne Hemmungen von draußen anzueignen, war die natürlichste Sache der Welt” (S. 70).

Für dieses Elend findet die Autorin Fang Fang eine passende Erzählstimme, es ist diejenige des achten Sohnes. Er verstirbt bereits wenige Tage nach seiner Geburt und erzählt somit aus dem Jenseits, er hält sich selbst dabei für privilegiert, er ist “glücklicher und ruhiger” (S. 18) als diejenigen, die noch leben. Der westliche Leser kennt diese Erzählweise bereits aus der amerikanischen Fernsehserie Desperate Housewives, bei der sich eine Nachbarin das Leben nimmt und zur Erzählerin der einzelnen Folgen wird. Die Perspektive erlaubt familiäre Nähe und psychologische Einblicke in die Charaktere, kann aber auch die schlimmsten Verbrechen ungefiltert wiedergeben. Man ist nahe dran am Familienleben und bei der Deutung doch oft ganz auf sich gestellt. Diese Perspektive ist besonders geeignet, chinesische Geschichten aus dem 20. Jahrhundert zu erzählen angesichts der Vielzahl an gesellschaftlichen Umbrüchen.

Der eigentliche Held des Romans ist aber der siebte Sohn (Namen tragen sie alle nicht). Als kleines Kind lebt er vernachlässigt wie ein Hund, mit fünf wird er zum Müllsammeln geschickt: Kehrt er jedoch mit bloßen Händen heim, wird er geschlagen. Seine Jugendliebe stirbt bei einem Bahnunfall am Gleis, von diesem Schock wird er sich nicht wieder erholen, und lebt nach einem fragwürdigen Grundsatz: Derjenige “der einen schlechten Ruf hat, weil er auf schmutzige Weise zu Vermögen gekommen ist, hat die Chance, einen Haufen Geld für Krankenhäuser oder Schulen zu spenden, von denen die große Masse profitiert” (S. 1). Aufstieg um jeden Preis, Wohltaten können auf später verschoben werden. Während der Kulturrevolution wird er aufs Land verschickt und entgeht so der Gewalt und Armut, die die Familie beherrschen. Durch Losglück kann er ab 1976 an der Peking-Universität studieren und kehrt später als Kader in die Heimat zurück.

Im Leben der Familie manifestiert sich der Wandel der Werte. Die Generation der Eltern lebt noch nach dem traditionellen Familienbild: Kinder sind gehorsam oder lernen durch Schläge. Sie ordnen sich der Stammesstruktur unter, gehen für die Familie arbeiten und sei es auf Kosten der Schulbildung. Auch die Frau muss sich unterordnen, Treue ist ihre erste Pflicht, einen Sohn zu gebären gleich ihre zweite. Für das Familienoberhaupt ist es selbstverständlich, diese Rollenverteilung mit Gewalt durchzusetzen und ansonsten seinen Mann zu stehen, im Alkohol und auch in einer Messerstecherei.

Den Kindern dagegen stehen Lebenswege offen, der Roman (oder ist es das Schicksal?) spielt mit ihren Möglichkeiten. Die insgesamt acht Söhne stehen beispielhaft für diejenige Generation, die Ende der siebziger Jahre jung war. Vielfältig sind ihre Lebensläufe, ihre Wege führen hinauf in ein besseres Leben: größere Wohnungen in ruhigeren Vierteln, neue Elektrogeräte, ausreichend Essen. Die wirtschaftliche Entwicklung seit der Öffnung Chinas steht auf Wachstum und so sind auch die privaten Aussichten “glänzend”. Diese Perspektive des Romans ist aus heutiger Sicht besonders spannend, sie lag 1987 beim Erscheinen des Romans in der Luft. Die weitere politische Entwicklung war noch nicht abzusehen, 1989 noch zwei Jahre in der Zukunft. Aus dem an sich vielleicht etwas einfachen, nur 164 Seiten langen Roman wird so ein Zeitdokument, das einen doppelten Blick auf China ermöglicht: einerseits die Erzählperspektive Ende der achtziger Jahre, und von dort aber weiter zurück in die Vergangenheit.

Die Autorin Fang Fang wurde mit dem ‹Wuhan Diary› bekannt. Dieses “Tagebuch aus einer gesperrten Stadt”, so der Untertitel dieses Buches, ist eine Sammlung von Weibo-Einträgen aus der Zeit des ersten Lockdowns wegen der Corona-Pandemie. Die deutsche Übersetzung erschien damals zeitnah noch in demselben Jahr und ihr Erfolg mag nun Anlass gegeben haben für die deutsche Ausgabe von Fang Fangs erstem Roman ‹Glänzende Aussicht›. Der Originaltitel ‹風景› (fēng jǐng) bedeutet wörtlich ‘Aussicht’ oder ‘Landschaft’ und ist durchaus positiv konnotiert, was sich am Titel der deutschen Ausgabe widerspiegelt. Angesichts der Perspektive aus dem Grab und der grässlichen Lebensumstände der Familie ist dies allerdings ironisch gemeint. Der Übersetzung gelingt auch sonst das Einfangen der Sprache und Atmosphäre durch einfache, kurze Sätze. Fußnoten sind an entscheidenden Stellen eingefügt, um Redewendungen oder Anspielungen zu erklären ohne den Lesefluss allzu häufig zu unterbrechen. Das letzte Kapitel ist im Präsenz erzählt und so gut als Epilog erkennbar: Die Baracken werden abgerissen, das ganze Viertel muss einem Neubauprojekt weichen. Das Grab des achten Sohnes wird entfernt und der Erzähler verstummt.

‹Glänzende Aussicht›, Roman von Fang Fang. 1987 erschienen, deutsche Übersetzung von Michael Kahn-Ackermann 2024 bei Hoffmann und Campe. ISBN 978-3-455-01678-9, 24,00€. Eine Leseprobe bis S. 27 ist beim Verlag möglich, und ist auch im chinesischen Original zugänglich.