Für deutsche Staatsbürger, die langfristig in China leben, ist die Teilnahme an Bundestags- und Europawahlen (siehe die Informationen des Bundeswahlleiters für die Europawahl 2019) oft mit Schwierigkeiten verbunden. Beantragte Briefwahlunterlagen werden teils nicht zugestellt in China. Zudem ist die Zeit knapp bemessen für den Postweg: Nicht mehr in Deutschland gemeldete Personen müssen zunächst die Eintragung in das Wählerverzeichnis an ihrem letzten Meldeort beantragen (meist elektronisch möglich), die Briefwahlunterlagen müssen dann in China zugestellt und schließlich nach Deutschland zurückgesandt werden. Für den Rückversand hatte die deutsche Botschaft bei der letzten Bundestagswahl sogar die Nutzung ihres Kurierdienstes angeboten um die Postlaufzeit zu verkürzen. Neben diesen praktischen Problemen kommt hinzu, dass die Interessen von Auslandsdeutschen in den Parlamenten insgesamt eher nur am Rande berücksichtigt werden, und dass obwohl Deutschland über eine beachtliche Zahl von Staatsbürgern im Ausland verfügt. Den Schwierigkeiten könnte Abhilfe geschaffen werden durch die Einführung eines speziellen Beauftragten für Auslandsdeutsche im Deutschen Bundestag, die zusätzliche Möglichkeit einer Urnenwahl vor Ort an den Botschaften und Generalkonsulaten verbunden mit der Einführung eigener Auslandswahlkreise mit eigenen Auslandsabgeordneten.
Zahl der Auslandsdeutschen
Nach einer Studie der Gesellschaft für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD (Talent Abroad: A Review of German Emigrants, 2015) lebten in den Jahren 2010/11 etwa 3,4 Millionen Deutsche über 15 Jahren im Ausland. Innerhalb der OECD-Länder verfügen lediglich Mexiko und das Vereinigte Königreich über mehr Staatsbürger in anderen OECD-Ländern. Zahlenmäßig liegt Deutschland zudem nur knapp hinter Indien und China, die über jeweils 3,6 Millionen Staatsbürger im Ausland verfügen. Etwa ein Drittel der Auslandsdeutschen mit 1,1 Millionen Deutschen befindet sich in den USA. In der Schweiz und im Vereinigten Königreich leben jeweils etwa 270.000 Deutsche. Jeweils etwa 200.000 leben in Frankreich, Italien und in Spanien. In Kanada, Österreich und der Türkei sind es etwa 150.000, und in Griechenland, Australien und den Niederlanden etwa 100.000 Deutsche. Zum Stichtag 30. April 2018 hielten sich in China (ohne Hongkong und Macau) nach Mitteilung des chinesischen Staatlichen Amtes für Migration 17.701 Deutsche dauerhaft auf.
Vorbilder Frankreich und Italien
Andere Länder, unter anderem Frankreich und Italien, berücksichtigten die Interessen ihrer Auslandsbevölkerung wesentlich stärker in ihren nationalen Parlamenten. Zum einen ermöglichen sie die Teilnahme an nationalen Wahlen in ihren Botschaften und Konsulaten im Ausland. Zum anderen haben sie eigens Auslandswahlkreise mit eigenen Auslandsabgeordneten eingeführt (siehe Michel S. Laguerre, Parliament and Diaspora in Europe, Palgrave MacMillan, 2013). In Frankreich beispielsweise wurden die Auslandwahlkreise im Juli 2008 im Zuge einer Verfassungsreform für die Wahlen zur Nationalversammlung im Jahr 2012 eingerichtet. Derzeit gibt es elf solcher Wahlkreise für Auslandsfranzosen, wobei jeder Wahlkreis einen Abgeordneten stellt. Der Umfang der Wahlkreise wird durch die Anzahl der Franzosen bestimmt, die in den entsprechenden Ländern wohnhaft sind. Durch diese Regelung unterscheidet sich die flächenmäßige Größe der Wahlkreise deutlich. Während Europa in mehrere Wahlkreise eingeteilt ist, werden fast ganz Asien und Ozeanien zu einem einzigen Wahlkreis zusammengefasst.
Auslandswahlkreise in Frankreich:
Mögliche Reformvorschläge für Deutschland
Um entsprechend die Einbindung der Auslandsdeutschen bei Wahlen und deren parlamentarische Repräsentation zu verbessern, kommen verschiedene Maßnahmen in Betracht:
- Einführung eines Beauftragten für Auslandsdeutsche im Deutschen Bundestag (bzw. eines Beauftragten für Auslandseuropäer im Europäischen Parlament),
- Ermöglichung der Urnenwahl in den Botschaften und den Generalkonsulaten, möglichst verbunden mit der
- Einführung von eigenen Auslandswahlkreisen mit eigenen Auslandsabgeordneten.
Beauftragter für Auslandsdeutsche im Bundestag
Ein spezieller Beauftragter könnte den besonderen Interessen der Auslandsdeutschen im Parlament eine Stimme geben. Die Ernennung eines solchen Beauftragten für Auslandsdeutsche im Bundestag wurde in einer Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags vom 7. April 2016 mit dem Titel „Parlamentarische Vertretung der Auslandsdeutschen“ (WD 3 – 3000 -090/16) als Möglichkeit erörtert. Anders als beim Wehrbeauftragten des Bundestags, der im Grundgesetz ausdrücklich festgeschrieben ist, könnte ein Beauftragter für Auslandsdeutsche im Bundestag im Rahmen der Satzungsautonomie des Parlaments ernannt werden. Der Beauftragte könnte regelmäßig einen Bericht zur Situation der Deutschen im Ausland abgeben und dabei natürlich auch zwischen verschiedenen Regionen und Ländern unterscheiden. Zusätzlich könnte, wie in einigen anderen Ländern üblich, ein „Tag der Auslandsdeutschen“ im Deutschen Bundestag eingeführt werden, bei dem speziell auf die Situation der Auslandsbevölkerung eingegangen wird.
Urnenwahl in den Botschaften und Generalkonsulaten
Man könnte gerade in China möglicherweise mehr Menschen zur Wahl bewegen, wenn es an der Botschaft und den Generalkonsulaten die Möglichkeit gäbe, vor Ort an der Wahl teilzunehmen. Gerade in China sind die Auslandsdeutschen vor allem in den großen Städten Shanghai und Peking konzentriert. Andere EU-Mitgliedsstaaten, so z.B. Frankreich, Finnland, Portugal und Bulgarien erlauben eine Urnenwahl in ihren Auslandsvertretungen. Ähnlich wie auf den Rathäusern und anderen Wahlstellen in Deutschland, könnten die Bürger am Wahltag sowie in den Wochen davor während der Geschäftszeiten der Auslandsvertretungen zum Zwecke der Wahl besuchen. Freiwillige Wahlhelfer würden die Stimmen auszählen. (Die Briefwahl sollte aber als zusätzliche Option bestehen bleiben für diejenigen außerhalb der großen Städte.) Als praktische Schwierigkeit ergäbe sich allerdings bei der Urnenwahl im Ausland, dass die Wahlzettel hinsichtlich der Erststimme für den Kandidaten des jeweiligen Wahlkreises für jeden der 299 Wahlkreise in Deutschland unterschiedlich sind. Das würde zu dem praktischen Problem führen, dass die Botschaften und Generalkonsulate im Extremfall 299 unterschiedliche Wahlzettel vorhalten müssten (siehe Wissenschaftliche Dienste des Bundestags Ausarbeitung WD 3-3000-052/13 „Wahlrecht für Auslandsdeutsche und Zulässigkeit einer Urnenwahl in deutschen Auslandsvertretungen“). Dem könnte gegebenenfalls durch eine elektronische Wahl abgeholfen werden, durch welche die unterschiedlichen Wahlkreiszettel einfacher dargestellt werden könnten. Eine bessere Lösung bietet letzten Endes die Einführung eigener Auslandswahlkreise mit eigenen Auslandsabgeordneten:
Eigene Auslandswahlkreise und eigene Auslandsabgeordnete
Entsprechend den Vorbildern in Frankreich und Italien könnten gemäß der zahlenmäßigen Verteilung der Auslandsdeutschen eigene Auslandswahlkreise eingerichtet werden. Im Wahlkampf und im Bundestag werden derzeit die Interessen von Auslandsdeutschen, die über alle deutschen Wahlkreise verstreut sind, kaum berücksichtigt, da sie einzeln über die Wahlkreise verteilt kaum eine nennenswerte Wählergruppe darstellen. In der Summe jedoch ist ihre Zahl beachtlich. In Deutschland kommt etwa auf 300.000 Einwohner ein Abgeordneter im Bundestag. Bei 3,4 Millionen Auslandsdeutschen betrüge die Zahl der Auslandsabgeordneten also immerhin 11 Abgeordnete. Ein Auslandswahlkreis würde etwa für Kalifornien (wo alleine bereits 300.000 Deutsche leben), zwei weitere für die USA einschließlich Mexiko und Kanada, einer für Nordeuropa (UK, Irland, Skandinavien) sowie einer für Schweiz und Österreich, sowie für zumindest einer jeweils auch für Afrika, Südamerika, sowie für Asien und Ozeanien. Diese Idee eigener Auslandsabgeordneter wurde kürzlich in einem Kommentar von Ulrike Franke im Einspruch-Magazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Titel „Im Interesse der Ausgewanderten“ diskutiert.
Argumente für Auslandsabgeordnete
Auslandsabgeordnete bieten die Möglichkeit, differenzierte Auslandskenntnisse in das Parlament einzubringen. Sie verfügen über Erfahrungen über die konkreten, materiellen Lebensumstände im Gastland und die dortige wirtschaftliche, kulturelle und politische Situation, häufig gepaart mit speziellen Sprachkenntnissen. Zudem haben sie oft wertvolle Kontakte im Gastland, von denen Deutschland wesentlich stärker profitieren könnte als bisher. Insbesondere in den Bereichen auswärtige Angelegenheiten, Diplomatie, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Forschung, Umwelt, Klima- und Entwicklungszusammenarbeit könnten Auslandsdeutsche eine wichtige Quelle sein und wertvolle Perspektiven einbringen. Gerade auch bei allen Änderungen in der deutschen Außenpolitik scheint es angezeigt, dass die Auslandsdeutschen mit einer eigenen Stimme im Parlament vertreten sind, so dass Änderungen nur unter Beachtung derer Situation und berechtigter Interessen im Ausland erfolgt.
Die Interessen der Auslandsdeutschen können sich von den Staatsbürgern im Inland unterscheiden. Sie betreffen beispielsweise:
- Förderung von Kindertagesstätten und Auslandsschulen, Zugang zu öffentlichen Einrichtungen des Gastlandes, Sicherung einer hochwertigen und bezahlbaren Schulbildung für Kinder, die im Gastland aufwachsen,
- Vereinfachung des grenzüberschreitenden Rechtsverkehrs, insbesondere im Bereich des Vertrags-, Sozial- und des Familienrechts,
- Ausbau der Kooperation und des Austauschs zwischen Deutschland und dem Gastland auf wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Ebene,
- Beiderseitige Anerkennung ausländischer Ausbildungen und Qualifikationen,
- Schutz von Auslandsinvestitionen und (Wohn-)Eigentums,
- Schutz vor Diskriminierungen im Gastland,
- Medizinische Versorgung und Hilfe in Katastrophenfällen,
- Hilfe bei der Rückkehr z.B. durch Wiedereingliederung in den heimischen Arbeitsmarkt,
- etc.
Argumente gegen Auslandsabgeordnete
Gegen die Einführung von Auslandsabgeordneten wird teils angeführt:
- Auslandsdeutsche zahlen aufgrund von Doppelbesteuerungsabkommen keine Einkommenssteuer in Deutschland sondern nur im Gastland. Daher stelle es eine ungerechtfertigte Besserstellung von Auslandsdeutschen dar, wenn diese eigene Abgeordnete erhielten. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass das Stimmrecht heute grundsätzlich von der Steuererbringung unabhängig ist. Auch geht mit der Besteuerung im Gastland häufig keine entsprechende Möglichkeit politischer Partizipation oder Repräsentation im Gastland einher: Gerade in China ist eine politische Betätigung (trotz Besteuerung) weitgehend ausgeschlossen.
- Die Einführung von Auslandswahlkreisen könne zu Konflikten mit den Gastländern führen, weil diese sich in Ihrer Souveränität verletzt sähen oder den Wahlvorgang bzw. die vorangehende Wahlkampagne als Sicherheitsrisiko einstuften. Dem kann jedoch vorgebeugt werden, indem z.B. das Auswärtige Amt im Vorfeld die erlaubten Tätigkeiten im Gastland genau abfragt, damit z.B. provozierende Wahlkampfauftritte vermieden werden. Trotz vereinzelter Zwischenfälle z.B. in Kanada, verlaufen Auslandswahlen in der Realität meist komplett reibungslos, so dass diese Befürchtungen weitgehend unbegründet sind.
- Teilweise gab es z.B. in Italien parteipolitische Kritik an der Einführung von Auslandswahlkreisen, weil diese einseitig zu einer Besserstellung bestimmter Parteien im politischen Spektrum führe. So seien in Italien die Auslandsabgeordneten überwiegend rechter Parteien zugehörig. Auf eine solche eher konservative Tendenz bei den Auslandsbevölkerungen lasse z.B. auch die Wahl vieler türkischen Staatsbürger in Deutschland für Erdogan schließen. Solche parteipolitischen Befürchtungen sind zwar nachvollziehbar, jedoch aus staatsbürgerlicher und parteineutraler Sicht nicht überzeugend. Es sollte vielmehr für alle Parteien ein Ansporn zu parteipolitischer Auseinandersetzung und zur Formulierung attraktiver parteipolitischer Programme für Auslandsdeutsche sein.
Organisationen, die sich mit dem Thema befassen
In Deutschland bietet die Internetseite des Bundeswahlleiters aktuelle Informationen für Auslandsdeutsche im Hinblick auf die kommende Europawahl 2019. Der Bundestag und auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags haben sich mit verschiedenen Fragen zu dem Thema der Einbindung der Auslandsdeutschen befasst, vor allem auch im Zuge der Reform des Wahlrechts im Jahr 2012. Es scheint aber noch keine Erörterung der Idee der Auslandswahlkreise und Auslandsabgeordneten erfolgt zu sein. Wie eingangs genannt, hat die Botschaft in Peking bei der vergangenen Bundestagswahl ausnahmsweise die kostenfreie Rücksendung der ausgefüllten Briefwahlunterlagen über ihren Kurierdienst angeboten, wovon auch etwa 150 Personen Gebrauch gemacht haben. Deutsche, die sich in der Vorsorgeliste für Auslandsdeutsche ELEFAND registriert hatten, wurden aktiv über diese Möglichkeit informiert.
Die deutschen politischen Stiftungen im Ausland (FES, KAS, HBS, etc.) scheinen sich bisher noch nicht vertieft mit dem Thema befasst zu haben, da sie sich vor allem auf den Kontakt und Austausch zu der jeweiligen Bevölkerung und Politik im Gastland konzentrieren. Die großen Partei-Organisationen in Deutschland verfügen teils über „Freundeskreise“ im Ausland, die den Anschluss der im Ausland lebenden Unterstützer erlauben soll (siehe beispielsweise auf den Internetseiten der CDU und der SPD).
Im internationalen Bereich hat sich die „International Organziation of Migration“ (IOM) teils mit diesem Thema befasst. Auch das „International Institute for Democracy and Electoral Assistance“ (International IDEA) hat in einem Bericht 2007 zu diesem Thema Stellung genommen (Voting from Abroad – The International IDEA Handboot). Die Vereinigten Staaten, die über eine große Auslandsbevölkerung verfügen, hat eine eigene Stiftung, die sich für die Ausübung des Wahlrechts im Ausland einsetzt, die „Overseas Vote Foundation“.
Die Autoren freuen sich über Kommentare und auch über Ergänzungen zu aktuellen Entwicklungen in Bezug auf das Thema (tim.woeffen@gmail.com).
Ergänzung (6. November 2019): Bezüglich der Ausübung des Wahlrechts auf den Botschaften und Konsulaten gab es bereits drei Online-Petitionen, von denen zwei mehr oder weniger abschlägig beschieden wurden (in den Jahren 2012 und 2016) und eine dritte Petition aus dem Jahr 2019 noch in der Prüfung ist.
Ergänzungen (21. Mai 2020): Eine aktuelle Petition zur Einführung eines parlamentarischen Beauftragten finden Sie hier. Weitere Informationen zu dem Themenbereich der Teilnahme an Wahlen im Ausland finden Sie auch in dem sehr gut recherchierten Artikel von Stephan Kroener in Bogotá „Auslandsdeutsche – vom Wahlrecht abgeschnitten“ vom 16. Juni 2019.
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